Lulu bewirbt sich um einen Job. Ein einfacher Bürojob bei einer kleinen Firma. Doch weil sie sich seit 15 Jahren als Hausfrau und Mutter um ihre Tochter und ihre Zwillinge gekümmert hat, gibt man ihr nicht einmal die Illusion einer Chance. Zum Ärger ihres cholerischen Mannes “verpaßt” Lulu den Zug zurück in ihren Heimatort und als sie deswegen in einem Hotel übernachtet, trifft sie eine Geschäftsreisende, die ihr ein Angebot macht: Komm’ doch einfach mit.
Und Lulu kommt einfach mit.
Lulu bricht aus. Nichts großes. Nicht nach Venedig oder einen anderen spektakulären Ort, nur in einen von den Touristen verlassenen Badeort in der Normandie. Sie nimmt eine Auszeit, sie verliebt sich und weiß doch dass sie zurück muß. Doch sie schafft den Schritt nicht: Ein bißchen noch, ein paar Tage… Lieber versucht sie auf der Straße zu leben und durch hilflose Diebstahlsversuche zu überleben und trifft dabei weitere Verlorene wie sie selber.
Doch ihre Abwesenheit wirft ihr Familienleben durcheinander, verursacht Chaos in dem bisher scheinbar so gut sortierten Familienleben an der Seite ihres dominanten Mannes und nicht zuletzt auch unter ihren Freunden, die eigentlich nur eine Frage zu klären versuchen: Wie konnte es soweit kommen?
Etienne Davodeau hat seine Geschichte vollkommen reduziert: Zwar beginnt die Geschichte mit einem Rätsel, doch die Lösungen, die Wendungen sind alltäglich. Es geht in “Lulu – Die nackte Frau” auch nicht um große Geschichten, Helden oder weltbewegende Ereignisse, sondern um das Leben einer einfachen Frau, für die eine Fahrt ans Meer eine Revolution darstellt. Das diese Frau und ihr Schicksal uns nicht egal sind, daran wiederum liegt die Kunst Davodeaus.
Denn auf den ersten Blick bietet “Lulu” nicht viel: Davodeau hat bereits seit einiger Zeit seinen Stil und auch seine Themen gefunden (siehe auch “Les mauvaises gens“). Die Bilder sind schnörkellos, die Farbgebung reduziert, das Layout sehr klassisch und zumeist zeigt er seine Figuren in der Halbtotalen, einer respektvollen Distanz. Nicht selten verstummen seine Bilder dabei, die Dialoge verschwinden, ein paar Bilder mit reaction shots reichen ihm, um das Wesentliche zu verdeutlichen.
“Lulu – Die nackte Frau” ist eine spannende, realistische Geschichte und zugleich eine Übung in Reduktion, wie sie nur ein Künstler, der seine Mittel genauestens einzusetzen versteht, schaffen kann.
[Als Rezensionsexemplar diente die französische Originalausgabe]
Etienne Davodeau
Lulu – Die nackte Frau
Splitter
ISBN 978-3-86869-560-1