Wenn man sich zu sehr vom Mainstream entfernt, wird man meistens mit Nichtbeachtung bestraft. Es ist eine Kunst genau jene Balance zwischen Avantgarde und Mainstream zu finden, die gleichermaßen die Erwartungen zu erfüllen versteht, wie auch für eine Überraschung zu sorgen. Wenn man sich dennoch darauf einläßt sich jenseits davon zu bewegen, weil die eigene Leidenschaft einen dazu verleitet, dann muß man auch die Nichtbeachtung zu verarbeiten zu verstehen.
Derart aus der Zeit gefallen ist auch der Erfolgsautor Thomas Rocher aus Pénélope Bagieus “Eine erlesene Leiche”. Nach den Erfolgen seiner ersten Romane hat ihn der Modegeschmack fallen gelassen und nun sitzt er alleine in seiner mondänen Pariser Altbauwohnung herum und bringt keine Zeile zu Papier.
Da tritt Zoë in sein Leben und auch wenn Thomas der scheinbar so dominante Charakter der Geschichte ist: “Eine erlesene Leiche” ist Zoës Geschichte, die Geschichte einer 22jährigen Messehostess mit einem arbeitslosen Freund und keiner Perspektive in ihrem Leben. Die Begegnung zwischen Zoë und Thomas verändert ihr Leben: Thomas findet in Zoë eine Muse, Zoë ein kultiviertes Leben jenseits des bloßen gesellschaftlichen Überlebens, dass sie sich so noch nicht einmal vorstellen konnte. Doch spätestens mit dem Auftauchen von Agathe, Thomas’ Ex-Frau und seine Verlegerin ist die Illusion über ein manchmal exzentrisches, aber irgendwie doch romantisches (in Zoës Augen) Leben zu zweit hinüber.
Hinter Pénélope Bagieus scheinbar so harmlosen, gefälligen und femininen (so wird er gerne vermarktet) Stil fährt sie als Zeichnerin und Szenaristin von “Eine erlesene Leiche” große Geschütze auf. Die Schärfe ihrer Beobachtung wird nicht nur durch die runden Formen und schlaksigen Cartoonfiguren mit den großen Augen abgemildert. Damit erinnert Pénélope Bagieus Werk erst einmal an andere französische Zeichnerinnen wie etwa Margaux Motin (“Ich wär’ so gerne Ethnologin”), deren humorvolle Beobachtungen zum Leben moderner Frauen etwas den Tiefgang einer Pfütze nach einem Sommergewitter erreichen.
Immerhin scheint es so, als ob sich der Deutsche Verleger Carlsen dazu herabgelassen für diese Graphic Novel, das für ihr vorher erschienes Werk “Wie ein leeres Blatt” verwendete, peinliche “For Ladies only”-Label fallen zu lassen. Denn trotz des Stils, trotz der Kolorierung in Pastelltönen und dem konventionellen Layout und den sparsam eingesetzen Sprechblasen, die einem mit ihrem großen Schreibschriftbuchstaben das Lesen so viel leichter machen, entwickelt “Eine erlesene Leiche” gerade in den scheinbar so nebensächlichen Details über das Leben einer jungen Frau im Frankreich unserer Zeit den Tiefgang eines Schlachtschiffes. Die vermeintlichen Gags über Beziehungen und Moden haben bei ihr die Zielgenauigkeit von lasergestützten Raketensystemen und unter der Oberfläche einer ruhigen See rast so manches, ungesehenes Torpedo auf den Leser zu, beispielsweise wenn man Zoës Auftritt als sexy Verführerin als scheinbaren Triumph zuerst bejubelt und sich erst viel später herausstellt was für ein Fehler das war. Dementsprechend dürfte das Ende der Geschichte, die in ihrem Pygmalion-Motiv zuerst durchaus vorhersehbar erscheint, so manch einen Leser vollkommen unerwartet treffen.
Denn, nein! Auch wenn es alle denken mögen: “Eine erlesene Leiche” ist nicht die Geschichte des Erfolgsautoren Thomas, der sich dank einer naiven Muse erneut zum literarischen Helden aufschwingt. Es ist die Geschichte der 22jährigen Messehostess Zoë, der niemand etwas zutraut und die uns gerade deswegen überraschen wird.
[Die Deutsche Ausgabe erscheint am 1. Oktober 2013.]
Pénélope Bagieu
Eine erlesene Leiche
Carlsen
ISBN 978-3551736468